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Lebendige Muskeln: wie viel (Ent-)Spannung braucht es?


In unserer westlichen Welt sind Stille, Nacht, Weite, Sanftheit, Raum, Entspannung, Hingabe, Geduld und Ruhe vielleicht Begriffe, die mit Langeweile und Stagnation in Verbindung gebracht werden. Viele von uns haben Angst etwas zu versäumen, was uns so ziemlich stressen kann, wenn wir immer mehr haben und überall dabei sein wollen.


Ein genauer Blick verrät, dass alles Lebendige in der Natur aktive und passive Qualitäten in sich tragen: auf Tag folgt Nacht, auf Spannung erfolgt Entspannung, auf jedes Aktionspotenzial in den Zellen folgt ein Ruhepotenzial. Das Herz klopft und ruht für einen kurzen Moment. Ein natürlicher Rhythmus hält uns am Leben.


"Ruhe ist nicht Mangel an Bewegung. Sie ist Bewegung im Gleichgewicht" Ernst von Feuchtersleben

Enspannung und Aktivität sind nicht ausschließende sondern sich ergänzende Kräfte sind, die in jedem von uns in gleichem Masse wirksam sind. Ein Moment der Ruhe und ein Schritt zurück kann andere Perspektiven eröffnen. In diesem Moment schafffen wir Raum und Zwischenraum. Stille ist eine aktive Energie, die sich in ihrer einzigartigen Form als Stille äußert. Die Stille kann uns zu jeder Zeit und überall umgeben. Sie ist immer da!




Was hat das mit unseren Muskeln zu tun?


Die Eigenschaften von Ruhe und Aktivität, lassen sich auch auf die Muskeln übertragen und integrieren. Wir können unsere Muskeln total erschlaffen lassen oder bis ins Unermessliche anstrengen.


Joseph Pilates nannte die Begriffe Körperbeherrschung oder Kontrolle um die Körperspannung während seiner Methode, die er "Contrology" nannte, zu definieren. Im Yoga wird der Begriff Achtsamkeit verwendet. Die Verbindung zum Moment schafft in den fordernden/fördernden Körperübungen ein Bewusstsein, wo wir beobachten können, wo im Körper gerade wie viel (Ent-)Spannung steckt. Die Körperübungen regen uns an, dies mehr und mehr zu beobachten. Denn im Grunde geht es um ein Gleichgewicht zwischen Spannung und Entspannung. Es gibt das Prinzip der entspannten Aktivität und aktiven Entspannung. Wenn das Skelett von innen aufgerichtet wird, wie Benita Cantieni es in ihrer Methode beschreibt, und alle Muskeln ihre natürliche Funktion erfüllen, entsteht eine optimale Körperspannung. Jeder Muskel macht mit, macht aber nicht mehr und nicht weniger. So ist beides im gleichen Moment möglich.


Ab einem gewissen Punkt können wir selbst wählen.


Finden wir mit unseren Muskeln eine Verbindung zum gegenwärtigen Moment, also fühlen wir ihn wirklich und total, was in ihm gerade vorgeht, kann das der springende Punkt sein, dass er in seine optimale Spannkraft zurückfindet. Das heisst, dann besteht für uns die Wahl: fester anspannen oder loslassen. Jedoch ist das alles kein Moment, denn diesen würde man wie (an)halten wollen. Es ist lebendig, im Fluss, eine Welle und ein Rhythmus.


Ein Wegweiser dazu ist das Pulsieren aus der Tiefenmuskulatur. Ein Puls ist wie ein Herzschlag, es zieht sich zusammen und entspannt sich wieder. Ein Puls ist freiwillig und natürlich. Ein Puls ist purstes Leben. Ein Puls aus den tiefliegenden, knochennahen Muskeln erweckt schlafende Muskeln zum Leben. Das geht wiederum einher damit, dass andere Muskeln, die ständig übernehmen, ja schon müde, kurz und überfordert sind, zur Ruhe kommen (können).


Wir lernen die einen Muskeln mehr loszulassen und die anderen mehr zu aktivieren.


Häufig sehe ich in meiner Arbeit, dass z.B. der vordere Oberschenkelmuskel oder auch der Trapeziusmuskel im Schulter-/Nackenbereich chronisch überlastet ist. Das sind unsere Freunde, die nie nein sagen. Sie machen alles mit - und irgendwann schmerzen und verkrampfen sie. Wenn man sich gezielt den kleineren Muskeln darunter zuwendet, die auch mitwirken wollen, können diese grossen Muskelpartien in ihre normale Funktion zurückkehren - nämlich in einer Bewegung oder in der Haltung mitwirken ohne Überforderung. Es kommt Entlastung und gleichzeitig Bewegung ins System.

Dafür dürfen, ja müssen wir sogar, alte Routinen im Halte- und Bewegungsmuster verlassen und uns neuen Mustern zuwenden. Neue Muster, die uns selbstbewusster und lebendiger machen - und leichter sind. Das ist jetzt natürlich leichter gesagt als getan. Denn manchmal muss man sich ganz schön überwinden um dieses neue Muster zulassen zu können. Es erfordert Mut, Übung und Geduld. Und das ist sicherlich das Schwierigste aber auch das Schönste an der Sache. Es zeigt uns, dass wir Mensch sind, lebendig und unperfekt, und dieser Prozess hat etwas Natürliches an sich. Wir haben die Wahl zu wachsen und wenn wir das wollen, eröffnet es uns neue Perspektiven - auf allen Ebenen. Mit einem eingesunkenen Brustkorb werden wir die Welt, unsere Mitmenschen und Dinge, die uns passieren anders wahrnehmen und anders (re)agieren, als mit einem starken, aufgerichteten Oberkörper. Ebenso werden wir die Welt entdecken können, wenn wir mit beiden Füssen am Boden stehen.


Wenn unsere Muskeln in den natürlichen Rhythmus mit anspannen und loslassen finden, tut uns das auf allen Ebenen gut. Findet ein Körper dann auch noch in seine natürliche Länge, die er muskulär halten kann, wird sich das auch auf die innere Haltung auswirken. Denn in einem aufgestellten Körper kann ein aufgestellter Geist wohnen. Am Anfang ist alles "künstlich" herbeigeführt, wenn wir in die Aufrichtung gehen. Ab einem bestimmten Punkt geht die neue Haltung mehr und mehr ins Fleisch über und irgendwann berührt die neue Haltung unseren inneren Kern - dies kann sich in den verschiedensten Formen zeigen: Heilung, Offenheit, Präsenz, Ausstrahlung, Respekt, Toleranz oder einfach nur Liebe.


© Kathrin Sailer, www.priya-kathrin.com

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